Vor 70 Jahren im kalten Rathaus-Keller...

Anfang Mai 2014, Lutz Rackow berichtet:

Das Rathaus von Friedrichshagen „gehört“ nun endlich wieder Leuten „von uns“. Mal sehen wer und was sich dort etabliert, ob unsere Mitbürger in dem interessanten Bau mit sympathischen Aktivitäten heimisch werden. Seit Geburt 1932 im Müggelseedamm an der Spree zuhause, erzähle ich, was ich als Zehnjähriger dort im Rathauskeller mitgemacht habe:

Hinter dem quer durch den Rathaus-Keller gezogenen Vorhang wuselten und flüsterten der Jungzug-Führer Herbst mit seinen Jungschaftsführern. Auf den  Stühlen mit kalten Ledersitzen fror an diesem Nachmittag im Herbst 1942 in kurzen Jungvolk-Cordhosen der Jungzug I des Fähnleins 27 des Deutschen Jungvolks, Jungstamm Berlin-Köpenick. Wir waren mit 10 Jahren alle gemäß NS-Gesetzespflicht  ins „Deutsche Jungvolk“ aufgenommen worden und jetzt neugierig auf  einen neuen „Heimabend“. Der war uns als diesmal besonders „spannend“ angekündigt worden. Ein leibhaftiger„Ritterkreuzträger“ der Wehrmacht aus Friedrichshagen sollte kommen.  

Unser neuer Jungvolk-Fähnleinführer war seit kurzem der schneidige Horst Bucholz aus dem Müggelseedamm, bei uns nebenan. Einzelkind und Halbwaise. Kürzlich hatte er mir auf dem 30-cm-Eis der Spree beigebracht, wie man rückwärts Schlittschuh läuft. Solches lange tragfähiges Eis gab es damals in jedem Winter bis März. Jetzt mußte auch ich ihn mit „Heil Hitler Fähnleinführer“ und strammer Haltung grüßen.

Fünf Jahre später traf ich ihn wieder. Durch Kriegserlebnisse gewiß gründlich geläutert aber unversehrt. Als Russisch-Lehrer in der inzwischen zur Gerhard-Hauptmann-Schule mutierten, vormaligen König-Friedrich-Oberschule für Jungen, am Friedhof. Dort wo bis heute zwei Heldenfiguren in Sandstein die Eingangstreppe flankieren. Auch von den  Rotarmisten, die ab 23. April 1945 dort „Quartier genommen“ hatten, wurden die Männer mit dem Schwert und Buch auf den Knieen nicht vom Sockel gekippt. Ebensowenig, wie das Denkmal des absolutistischen "Ortsgründers Friedrich II“, der auch seit  Honecker-Zeiten schließlich wieder „der Große“ genannt werden durfte. Den stießen, dem Vernehmen nach, die als Ortskommunisten geltenden KPD-Genossen L. und U. erst im Mai/Juni 1945 vom Sockel auf dem Marktplatz. Heute steht dort die „Nachschöpfung“,noch immer ohne vorbildgerechte Inschrifts-Platte. Die seinerzeitigen Spenden zur Wiedererichtung des Standbilds reichten nicht. Das Interesse erlahmte recht bald. Die Restkosten blieben die Initiatoren der Kommune wohl noch bis heute schuldig.  

Im Herbst 1942 wähnten „die Deutschen“ die Wehrmacht  des NS-Staates noch auf Siegeskurs. Rommel, der Erfolgsgeneral des Afrika-Korps, hatte schon den Suezkanal in Sicht. Leningrad war womöglich unrettbar eingekesselt. Auf dem Elbrus im Kaukasus hatten deutsche Gebirgsjäger die Hakenkreuzfahne eingerammt. In Stalingrad sollte bald die Lebensader der Sowjetunion, die Wolga, von der 6. Armee unter dem späteren Feldmarschall Paulus gesperrt werden. Dann hätte die Rote Armee kein Öl aus Baku mehr bekommen können. Europa war bis zu unserem Heimabend fast vollständig NS-besetzt, verbündet oder neutral. Nur Churchill hatte nicht klein beigegeben, die Sowjetunion schließlich nach riesigen Anfangsverlusten ihren Widerstand  stabilisiert.

Zu dieser Zeit froren die 10-jährigen „Pimpfe“ aus dem Westteil Friedrichshagens  (Grenze zum Fähnlein 26: Friedrichstrasse, heute Bölschestrasse) im Rathauskeller beim „Heimabend“. Einmal in der Woche hatten sie „Dienst“, konnten sich mit wichtigem Gehabe vor häuslichen Arbeiten drücken. Dann brauchten sie an einem solchen Tag keine Pferdeäppel als Edeldünger für den heimischen  Balkongarten vom Straßen-Pflaster kratzen, Teppich klopfen, im Wald Kaninchenfutter rupfen  und was sonst an lästigen Pflichten zur Familienversorgung unter Kriegs-Notversorgung anstand.

Endlich wurde der Vorhang im Rathaus-Keller gelüftet. Breitbeinig aufgestellt eröffnete der “diensthabende Jungschaftsführer“: Zuerst ein Führerwort!  Es  folgte ein Zitat aus einer der zahlreichen Hitler-Reden in der die Deutsche Jugend als „Garant der Zukunft des deutschen Volkes von der“ Maß bis an die Memel“ und weit darüber hinaus gen Osten in eine Pflicht für das „Tausendjährige Großdeutschland“ genommen wurde. Ein „Hordenführer“ -erster unter vier Mann-, suchte mit dünnem Stimmchen (noch kein Stimmbruch) einen markigem Ton anzuschlagen. Für seinen Vortrag,  ein Gedicht von „Kampf, Sieg  und Heldentod  für Führer, Volk und  Vaterland“. Dann zum Nachsprechen befohlen; Aufschlagen: (DJH-Liederbuch Seite ...). Seine vorwiegend mageren Kameraden in der brauen Kinder-Uniform (mit Koppel, Schulterriemen und Ehrendolch –seit Pimpfenprobe) bekamen die Betonung nicht in den Griff. Also Übungsbefehl zum Einzelvortrag beim nächsten Mal. Dann Anweisungen zum befehlsgemäßen Einsatz Altmaterialsammlung „Staniol, Eisen, Buntmetall, Papier usw.“ Stinklangweilig. Deshalb nun erst einmal ein Lied „Die Blauen Dragoner, sie reiten ...“. Der versprochene „Ritterkreuzträger“ wurde übrigens abgesagt. Er sei schon wieder an der Front, neue Heldentaten zu begehen. Zufällig erfuhr ich, wenige Monate später im Milchladen, dass er inzwischen den „Heldentod“ erlitten hatte.

Endlich Kommando-Befehle für das nächste Geländespiel. Kampfgruppe 1 unter Befehl von Pimpf Rudolf. Ausgerechnet der Flügelmann ...., weil riesenlang, begünstig durch Abkunft von noch längerer, spindeldürrer Mutter. Dumm wie ein Kommißbrot - er ....  konnte aber  lautstark „Jawoll“ antworten, ohne die Lippen zu bewegen. Angekündigte Geländegegner, übrigens die vorwiegend wohlgenährten Beamten-Sprößlinge des Fähnleins 26, Friedrichshagen Ostseite. Wenig Chancen für uns mit dem hohen Anteil von Armuts-Pimpfen in unseren Reihen. Die meisten aus dem eher notleidenden „Wiesengrund“, dem damaligen Überschwemmungsgebiet am Mittellauf der Erpe. Schulversäumer von dort entschuldigten sich im Frühjahr in der 10.Volksschule bei unserem Klassenlehrer Brandes aus Woltersdorf schon mal mit „hatte keine Schuhe“ oder „waren überschwemmt“.  Bei Keilereien ergriffen sie häufig als Erste die Flucht.

Dann ging es beim „Heimabend“ noch, wie jedes Mal, um die Verdunkelung. Wir sollte jeden Lichtschein, den wir nach Sonnenuntergang irgendwo entdeckten, unverzüglich beim zuständigen Luftschutzwart melden. Verdunkelungsrolleaus seien notfalls auch im Fliegerschadenbüro auf dem Rathaus-Hof zu erhalten. Das leitete damals mein dazu dienstverpflichteter Vater, der 1884  in Friedrichshagen geborene Architekt Otto Rackow. In seiner neuen Hauptaufgabe, nach jedem Luftangriff die hier entstandenen Bombenschäden zu melden und Behelfsreparaturen zu veranlassen, gab es immer mehr zu tun. Sogar schwere Luftminen waren schon von den Bombern der britischen  Royal Air Force über Friedrichshagen (einschließlich Müggelsee) abgeladen worden und in der damaligen Wilhelmstraße (heute Peter Hille Str.), in der Scharnweberstrasse und im Müggelseedamm eingeschlagen.

Wie befürchtet, verloren wir das nächste Geländespiel gegen die 26er. Die uns allerdings auch „von hinten“, gewissermaßen in Dolchstoßmanier, angriffen. Bohnenstange Rudolf war wohl doch nicht der richtige Anführer unserer Gruppe im Kindertraining des NS-Regimes für den Generationen-Nachschub als Kanonenfutter.